Storm: Ein deutscher Heimatdichter?

Storm: Ein deutscher Heimatdichter?
Storm: Ein deutscher Heimatdichter?
 
Theodor Storm benutzte für die Stimmungsbilder seiner Dichtungen zwar viele Eindrücke, die er in seiner Heimatstadt Husum empfangen hatte, aber er war nicht nur ein Heimatdichter, der in idyllischen Novellen und melancholischen Gedichten Erinnerungen an die gute alte Zeit festgehalten hat. Storm stammte aus einem wohlhabenden Elternhaus, doch verkehrte der Junge mit Vertretern aller Schichten. Er genoss eine recht freie Erziehung und lernte das meiste aus Erzählungen. Der zeitgenössischen Literatur begegnete Storm erst in Lübeck, wo er die letzten beiden Schuljahre verbrachte. Während seines Jurastudiums in Kiel und Berlin widmete er sich hauptsächlich der Poesie und seinen Freunden; die Versuche, mit seinen in Gedichten besungenen Geliebten in dauerhafte Beziehung zu treten, schlugen fehl.
 
In Husum gründete er eine eigene Kanzlei und eine Familie. Nach dem Scheitern der schleswig-holsteinischen Unabhängigkeitsbestrebungen sah er sich genötigt, sein Heimatland zu verlassen. In Potsdam musste er im preußischen Justizdienst bei null anfangen; auch in Heiligenstadt blieb er der Geldnot ausgesetzt. Der Kampf um sein Heimatland veranlasste ihn wieder zur Rückkehr. Als Landvogt in Husum traf ihn der Tod seiner Frau nach der Geburt ihres siebten Kindes. Nach der Trauerzeit folgte die Hochzeit mit einer früheren Geliebten. In Storms letzter Husumer Zeit schrieb er die meisten seiner Novellen, die seine Gedichte verdrängten. Seinen Lebensabend verbrachte Storm in Hademarschen, wo er einen Neuanfang als Dichter wagen wollte. Die Arbeit an seiner letzten Novelle war durch Krankheit stark beeinträchtigt. Erst nach seinem Tod widerfuhr Storms Werk großer Erfolg, wobei es oft vereinfachend auf das Bieder-Bürgerliche, Heimatliche beschränkt oder deutschtümelnd verfälscht wurde.
 
 Heimat und Elternhaus
 
In seiner Geburtsstadt Husum lebte Storm fast zwei Drittel seines Lebens; die »graue Stadt am Meer« prägte ihn ebenso stark wie seine Dichtung. An ihr hing »sein ganzes Herz«, zumal »der Jugend Zauber« sie für ihn verklärte. Zu diesem Zauber gehörten auch die Überbleibsel aus der früheren Blütezeit der Stadt, die seine Vorfahren mütterlicherseits noch miterlebt hatten: Husum war im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts noch eine bedeutende Hafen- und Handelsstadt Schleswig-Holsteins gewesen, hatte dann aber einen allmählichen Niedergang erfahren.
 
Allerdings wurde Storms Heimatverbundenheit durch die politischen und militärischen Auseinandersetzungen um die verschwisterten Herzogtümer Schleswig und Holstein erschüttert: Nachdem die Unabhängigkeitsbestrebungen Schleswig-Holsteins gegenüber dem Königreich Dänemark trotz der Unterstützung durch die Preußen während des ersten Deutsch-Dänischen Kriegs 1848—50 gescheitert waren und die beiden Herzogtümer an Dänemark zurückfielen, sah sich Storm, der mit für die Unabhängigkeit gekämpft hatte, gezwungen, sein Heimatland zu verlassen. Erst mit Beginn des zweiten Deutsch-Dänischen Kriegs von 1864 kehrte er zurück, litt aber fortan unter der Verwaltungshoheit des ihm verhassten Preußen. Da Schleswig zuvor zum Königreich Dänemark gehörte, war Storm ursprünglich kein deutscher, sondern ein dänischer Dichter; auch Storm selbst zählte die Staaten des Deutschen Bundes zunächst zum »Ausland«.
 
Theodor Storm wurde um Mitternacht zwischen dem 14. und 15. September 1817 geboren. Als Geburtsdatum nannte die Mutter entgegen dem Kirchenbuch den 14. September. Das erste Kind von Johann Casimir Storm (* 1790) und Lucie Woldsen (* 1797) erhielt den Taufnamen Hans Theodor Woldsen — Woldsen zu Ehren des alten Husumer Patriziergeschlechts, dessen Name unterzugehen drohte. Seiner Mutter bescheinigte Storm »Zartgefühl, Sanftmut, Liebreiz« und »einen guten, klaren Verstand«. Storms Vater, aus Westermühlen bei Rendsburg stammend, kam nach seinem Jurastudium als Gerichtssekretär nach Husum und stieg zum Advokat und Notar auf. Storm beschrieb seinen Vater zwar als einen rechtschaffenen und tüchtigen, aber auch arbeitssüchtigen Mann mit »heftigem Temperament und der tiefsten Innigkeit des Gemüts«, dem allerdings Humor und eine »frohe Leichtigkeit« fehlten. Bei beiden Eltern vermisste er Herzlichkeit und Zärtlichkeit.
 
 Kindheit und Schulzeit
 
Starke Eindrücke empfing der junge Storm durch verschiedene Örtlichkeiten in oder um Husum: das urgroßelterliche Haus mit Garten an der Schiffbrücke, die alten Patrizierhäuser und das Stadtschloss als Überbleibsel aus Husums Blütezeit; ferner die Heide, die Marsch und das Meer. Einen ersten Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse verschafften ihm die Bewohner der Kleinstadt, da er mit Angehörigen aller Schichten und Stände Umgang hatte: mit Patrizierabkömmlingen ebenso wie mit Handwerkersprösslingen, mit Amt- und Kaufleuten ebenso wie mit Dienstmädchen und Tagelöhnern.
 
Storm lernte schon früh die »Kunst des Erzählens« bei der Bäckerstochter Lena Wies, der er später eine Erzählung widmen sollte. Sie brachte ihm die heimische Sagen- und Märchenwelt nahe und trug die Erzählungen so vor, dass die Gestalten, »wie aus geheimnisvoller Tiefe, leibhaftig vor den Hörern auf[stiegen]«. Das Erzählen übte er mit seinen Spielkameraden, am liebsten in einem großen, leeren Fass, in dem sie sich abgeschlossen von der Außenwelt ganz ihrer Einbildungskraft überlassen konnten. Anklänge daran finden sich in Storms späterer Märchensammlung »Geschichten aus der Tonne« (1846).
 
Nach dem Tod des Großvaters Woldsen zog die Familie Storm 1821 in dessen stattliches Patrizierhaus in der Hohlen Gasse um. Der Knabe wurde noch im selben Jahr in die »Klippschule« der Mutter Amberg geschickt, eine private Grundschule einer alten Dame. 1825 kam er in die Quarta des Gymnasiums, der Husumer »Gelehrtenschule«, deren Unterricht anscheinend nicht sonderlich anspruchsvoll war. Jedenfalls stellte Storm fest, dass er in seiner Jugend »niemals etwas Ordentliches« gelernt, ja sogar »das Arbeiten. .. erst als Poet gelernt« habe. In der Gelehrtenschule habe man nur »geistige Hausmannskost« geboten, aber keine Werke gegenwärtiger Dichter. Zu Hause verschlang er Schillers Dramen oder griff zu Werken von Vertretern des Göttinger Hains, von Matthias Claudius und Gottfried Bürger. Storms früheste erhaltene Gedichte stammen von 1833; 1834 veröffentlichte er sein erstes Gedicht im »Husumer Wochenblatt«.
 
Seine Eltern gewährten ihm großen Freiraum: »Erzogen wurde wenig an mir;. .. von Religion oder Christentum habe ich nie reden hören«. Auch der Religionsunterricht blieb fruchtlos: Storm hatte »durchaus keinen Glauben aus der Kindheit her«. Er nahm auch später keinen Glauben an, stand dem Christentum eher ablehnend gegenüber.
 
1835 verließ Storm die Gelehrtenschule und sein Heimatland, um sich in der freien Hansestadt Lübeck am renommierten Gymnasium »Katharineum« für das Studium zu rüsten. Auch außerhalb der Schule lernte er nun die neuere Literatur kennen, so Goethes »Faust« sowie Eichendorffs und Heines Gedichte, die er sein Leben lang schätzte. Anstöße bekam Storm vor allem von seinem Mitschüler Ferdinand Röse, der ihn überdies mit Lübecks gebildeter Gesellschaft und dem jungen Dichter Emanuel Geibel bekannt machte. Seine eigenen Gedichte aus dieser Zeit hielt Storm später für Formkunst ohne Gefühlsgehalt.
 
 Studium in Kiel und Berlin
 
Im April 1837 begann Storm an der Landesuniversität Kiel sein Studium der Jurisprudenz, weil man dieses Fach »ohne besondere Neigung studieren kann« und sein »Vater ja Jurist« gewesen sei. Enttäuscht von der Studentenschaft, bemerkte er, dass ein Student entweder »viel kneipt und trinkt« oder »arbeitsam, eingezogen, einseitig oder einfältig« sei. Storm befasste sich daher mit anderen Dingen: Er verfasste mehrere Gedichte und sein erstes Prosastück, das Märchen »Hans Bär«, für Bertha von Buchan, die er 1836 als zehnjähriges Mädchen kennen gelernt hatte. Im Oktober verlobte er sich mit der siebzehnjährigen Emma Kühl, der sein erstes überliefertes Gedicht von 1833 galt. Allerdings verlief die Liebe offenbar nicht sehr glücklich, denn schon im Februar 1838 folgte die Entlobung.
 
Nach dem zweiten Semester setzte Storm 1838 das Studium in Berlin fort. Dank seines Lübecker Freundes Ferdinand Röse lernte er nun auch Studenten kennen, die eher seinen Vorstellungen entsprachen. Mit seinen Freunden gründete Storm eine Theatergruppe, ging ins Schauspielhaus und in die Oper. Das Studium konnte ihn allerdings auch in Berlin nicht begeistern. Als seine Freunde nach und nach Berlin verließen und seine Einsamkeitsgefühle sich verstärkten, kehrte er im Herbst 1839 nach Kiel zurück.
 
In Kiel fand Storm bald einen Freundeskreis, der sein geistiges Bedürfnis nach lebendigem Gedankenaustausch befriedigte. Zu der »Clique« gehörten auch die Brüder Theodor und Tycho Mommsen. In dem Kreis pflegte man vor allem Poesie. Storm entdeckte hier Eduard Mörikes Gedichte, die ihn stark beeindruckten. Ihre eigenen Gedichte sammelten Storm und die Brüder Mommsen im »Liederbuch dreier Freunde«, das 1843 erschien. Storms Gedichte waren zwar noch stark dem Zeitgeschmack verhaftet, verkündeten aber auch schon ein Grundmotiv seiner Lyrik: die Kluft zwischen Einst und Jetzt und die Macht der unwiederbringlichen Vergangenheit, die noch die Gegenwart prägt und den Erinnernden in ihren Bann zieht.
 
Im Oktober 1842 hielt Storm um die Hand der inzwischen sechzehnjährigen Bertha von Buchan an, die er zuvor platonisch geliebt und romantisch verklärend besungen hatte. Dass sie seinen Antrag ablehnte, erschütterte ihn schwer. Gleichwohl bestand er im selben Monat sein Examen mit guten Noten.
 
 Advokat in Husum
 
Storm half zunächst in der Kanzlei seines Vaters aus. Anfang 1843 erhielt er vom dänischen König seine Bestallung als Advokat. Im März eröffnete er seine eigene Kanzlei im Nebenzimmer seiner neuen Junggesellenwohnung. Noch im Frühjahr gründete er einen Gesangverein. Storm sammelte nebenbei Sagen, Märchen und Spukgeschichten, bei deren Niederschrift er seinen Prosastil schulte. Weiterhin veröffentlichte er Gedichte, die sich aber bald an eine neue Liebe richteten.
 
An Weihnachten 1843 begegnete Storm seiner Cousine Constanze Esmarch (* 1825) aus Segeberg. Schon im Januar 1844 verlobten sie sich. In Storms Briefen an seine Braut belehrte er sie auch über den Sinn der Ehe, den er in der »gegenseitigen Entwicklung und Durchbildung des Guten und Schönen« sah. Am 15. September 1846 wurde die Eheschließung in Segeberg im Bürgermeisterhaus ihres Vaters vollzogen. Am folgenden Tag zog das Ehepaar in das neue Haus mit Garten.
 
An seinem romantischen Ideal der Ehe fand Storm allerdings nicht lange Zeit Genüge: Anfang 1847 entbrannte er in Leidenschaft zu Dorothea Jensen (* 1828) — und Leidenschaft war nach seinem Bekenntnis just das, was er in seiner Ehe damals vermisste. Dank Constanzes Duldsamkeit zerbrach die junge Ehe jedoch nicht. Nachdem Storms Geliebte Anfang 1848 Husum verlassen hatte, bildete sich eine »innige Lebensgemeinschaft« zwischen den Ehepartnern. Ende des Jahres kam ihr erstes Kind zur Welt, dem bis 1865 sechs weitere Kinder folgen sollten.
 
1848 rissen die politischen Auseinandersetzungen um die Stellung Schleswig-Holsteins auch den bislang loyalen und eher unpolitischen Advokaten und Poeten Storm mit: Im Zuge der Märzrevolution bildete sich in Kiel eine provisorische Landesregierung für Schleswig-Holstein, um der Einverleibung in das dänische Königreich zu entgehen. Storm lieferte Beiträge an deren Presseorgan, die »Schleswig-Holsteinische Zeitung«, er unterschrieb eine Petition, die den Verzicht der Machtansprüche des dänischen Königs forderte, und er veröffentlichte politische Gedichte, die von der Unabhängigkeit Schleswig-Holsteins handelten. Storm blieb seiner Haltung auch nach der Niederlage der schleswig-holsteinischen Truppen und nach der Wiedereingliederung Schleswig-Holsteins in das dänische Königreich 1851 treu. Die Folge davon war, dass er Ende 1852 seine Bestallung als Rechtsanwalt verlor. Vonseiten der dänischen Obrigkeit zu einer Erklärung aufgefordert, erkannte er die wieder hergestellten politischen Verhältnisse nur »faktisch, nicht rechtlich« an. Daher sah er sich dazu gezwungen, seine Heimat zu verlassen.
 
Während dieser Unruhen und Umbrüche brachte Storm außer den politischen Gedichten auch poetische Werke hervor, die mit ihren idyllischen Erinnerungen einen verblüffenden Kontrast zu jenen Ereignissen bilden. 1849 verfasste er seine erste Novelle namens »Immensee«; 1851 überarbeitete er sie und veröffentlichte sie zusammen mit Prosaskizzen von 1847/48 und Gedichten in seinem ersten Buch »Sommergeschichten und Lieder«. Der große Erfolg seiner ersten Novelle (30 Auflagen zu Storms Lebzeiten) war ihm jedoch insofern unangenehm, als er den seiner Gedichte in den Schatten stellte, die Storm als sein Hauptwerk ansah. So fand auch sein erster Gedichtband 1852 nicht viel Beachtung, obwohl es später so berühmte Gedichte wie »Hyazinthen« und »Die Stadt« enthielt.
 
 Exil in Potsdam und Heiligenstadt
 
Die Suche nach einer Anstellung im Ausland verlief zunächst erfolglos. Ende 1853 kam er im preußischen Justizdienst unter und übersiedelte mit seiner Frau und den drei Söhnen nach Potsdam. Als Volontär musste er im Kreisgericht bei null anfangen. Die Gerichtsmaschinerie und der Termindruck machten ihm zu schaffen; überdies musste er sich von seinem Vater Geld schicken lassen. Im Sommer 1854 erhielt er ein sehr gutes Zeugnis und als Gerichtsassessor auch bald sein erstes Gehalt; es genügte jedoch keineswegs für den Lebensunterhalt, sodass er auf die Unterstützung des Vaters angewiesen blieb.
 
Bei seinem ersten Berlinbesuch Ende 1852 lernte Storm in dem Literaturkreis »Tunnel über der Spree« u. a. Theodor Fontane, Paul Heyse, Franz Kugler und Adolf Menzel kennen. Mitglieder dieses Zirkels trafen sich auch in einer kleineren Runde namens »Rütli«, in der Storm auch seine Dichtung vortrug. Hier bekam er Rückmeldung und Anregungen. In dem von Fontane und Kugler herausgegebenen Jahrbuch »Argo« veröffentlichte Storm mehrere Gedichte und Prosastücke. Im Haus von Kugler begegnete Storm im Februar 1854 Joseph von Eichendorff, der ihn neben Heine am stärksten beeinflusste. Im August 1854 besuchte Storm Eduard Mörike, mit dem er schon seit 1850 Briefe gewechselt hatte. Mörike beeindruckte ihn tief; seine »Erinnerungen an Eduard Mörike« veröffentlichte Storm 1877.
 
In Storms Potsdamer Zeit entwickelte sich sein Hass gegen Preußen und den Adel. Ihm missfielen der preußische »Staatsmechanismus«, der Standesdünkel und das Karrierestreben, der Gehorsam und die Unterwürfigkeit. Im häuslichen Kreis versuchte Storm eine behagliche Gegenwelt gegen diese »peinliche Wirklichkeit« zu schaffen. Seine berufliche Lage versuchte er mehrfach vergeblich zu verbessern; schließlich wurde er im Juli 1856 zum Kreisrichter in Heiligenstadt im Eichsfeld ernannt.
 
Im September 1856 zog Storm mit seiner Familie nach Heiligenstadt um. Sein Berufsalltag war hier zwar angenehmer, aber das Gehalt war nach wie vor zu knapp, zumal inzwischen noch die erste Tochter hinzugekommen war. Gleichwohl hat sich Storm in Heiligenstadt mit den »recht gebildeten Leuten« und der »überaus hübschen Umgebung« wohl gefühlt. Hier fand er auch wieder einen Freundeskreis, der sich zu Tee, Kuchen, Musik und Lektüre traf. Ende 1858 beglückte sein Vater ihn mit einem Tafelklavier, 1859 gründete Storm einen Gesangverein.
 
Storm blieb nun wieder mehr Zeit für die poetische Produktion, die er allerdings auch aus ökonomischen Gründen betreiben musste. In seiner Heiligenstadter Zeit schrieb Storm sechs Novellen, zwei Märchen und mehrere Spukgeschichten. Unter den Novellen finden sich zwar auch biedermeierliche Familiennovellen, aber die bedeutendsten Novellen rücken einen Ständekonflikt in den Mittelpunkt und bringen Storms Kritik am herkömmlichen Gesellschaftssystem zum Ausdruck, so »Auf dem Staatshof« (1858), »Auf der Universität« (1862) und »Im Schloß« (1862). Nach eigenen Aussagen strebte er mit ihnen eine politische, und zwar demokratische Wirkung an. Auch Storms Ablehnung des christlichen Glaubens klang nun verstärkt durch. Eine Stütze seiner religionskritischen Weltanschauung, die auf jede Transzendenz verzichtet, fand Storm in den Naturwissenschaften, besonders im Darwinismus, sowie in den Philosophien Schopenhauers und Feuerbachs.
 
 Landvogt und Amtsrichter in Husum
 
Anfang 1864 veranlasste der Beginn des zweiten Deutsch-Dänischen Krieges Storm zur ersehnten Rückkehr nach Husum, zumal seine Landsleute ihn zum Landvogt erkoren. Storm gab seine preußische Beamtenstellung auf und kehrte im März 1864 nach Husum zurück. Als Landvogt war er »Obervormund, Polizeimeister, Kriminal- und Zivilrichter« für den Amtsbereich der Stadt Husum, d. h. für den Landkreis und die Inseln, die Stadt selbst ausgenommen. Seine Einnahmen erlaubten es seiner um weitere zwei Töchter vergrößerten Familie nun, ohne Geldnot zu leben. Im Mai zog die Familie in das alte Predigerwitwenhaus ein. Sein neues Amt ließ ihm genug Zeit für Musik und Poesie. Storm gründete seinen Gesangverein neu und schrieb an seinen Werken weiter.
 
Im Mai 1865 starb Storms Frau Constanze nach der Geburt ihres siebten Kindes am Kindbettfieber. Seinen tiefen Schmerz über den Verlust seiner geliebten Frau verarbeitete er in dem Gedichtzyklus »Tiefe Schatten«. Eine Haushälterin ermöglichte es ihm, im September Iwan Turgenjew in Baden-Baden und seine Freunde in Berlin zu besuchen. Storm kümmerte sich aber durchaus auch selbst um seine Kinder.
 
Nachdem er seiner früheren Geliebten Dorothea Jensen wieder begegnet und die Liebe wieder erwacht war, heirateten die beiden im Juni 1866. Im Oktober 1866 zog die Familie in das größere alte Kaufmannshaus um (heute Museum). Das Eheglück wurde allerdings getrübt durch die großen Anforderungen, die der Haushalt mit sieben Kindern für deren Stiefmutter mit sich brachte, und die hohen Ansprüche, die Storm an seine Frau stellte. Die Lage entspannte sich erst allmählich, zumal nachdem Dorothea 1868 eine Tochter geboren hatte.
 
Indessen beunruhigten Storm die politischen Verhältnisse: Der Deutsch-Dänische Krieg von 1864 endete zwar bald mit der Niederlage der Dänen, aber gleichwohl blieben die Herzogtümer Schleswig und Holstein unter fremder Herrschaft; nach dem Vertrag von Gastein geriet Schleswig 1865 unter die Verwaltungshoheit von Preußen, die nach dem Deutschen Krieg von 1866 endgültig besiegelt wurde. Eine Folge davon war, dass das althergebrachte Amt des Landvogts abgeschafft wurde. Storm wurde Amtsrichter und bekam weniger Gehalt. Schlimmer als wieder sparen zu müssen, war für Storm freilich, unter der Herrschaft des verhassten Preußen leben zu müssen.
 
Dies lähmte auch Storms poetische Produktion. 1867 verfasste er nur zwei Novellen, 1868 veröffentlichte er eine Gesamtausgabe, gedacht als poetisches »Testament«. 1870 brachte er die Gedichtsammlung »Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Matthias Claudius« heraus, in deren Vorwort er seine Vorstellung von Lyrik als »unmittelbarem Ausdruck der Empfindung« darlegte. Auch die Prosastücke »Zerstreute Kapitel« sind noch von Storms politischer und poetischer Resignation gekennzeichnet. Doch die Novelle »Draußen im Heidedorf« brachte 1872 eine Wende: Mit der Hinwendung zu epischer Objektivität und damit der Annäherung an den poetischen Realismus setzte die produktivste Phase in Storms Novellistik ein; bis zu seinem Weggang aus Husum 1880 schrieb Storm noch 15 Novellen, zu deren bekanntesten »Pole Poppenspäler« (1873/74), »Aquis submersus« (1876) und »Carsten curator« (1878) gehören. Die Novellistik drängte indessen seine Lyrik in den Hintergrund. In ihr behandelte Storm bevorzugt die Vergänglichkeits- und Todesproblematik (so 1879 in »Geh nicht hinein«, seinem letzten größeren Gedicht). Dass ein elegischer Ton viele der Gedichte beherrscht, nimmt daher nicht wunder, zumal Storm des tröstlichen Glaubens an ein Weiterleben nach dem Tod entbehrte.
 
Sein Amt im preußischen Justizdienst übte Storm zwar nie mit Begeisterung aus, aber er erfüllte doch seine Pflicht. Allerdings wurde ihm sein Amt mehr und mehr zur Last, zumal er 1874 zum Oberamtsrichter und 1879 zum Amtsgerichtsrat befördert wurde. Schon nach dem Tod seines Vaters 1874 hatte Storm angefangen, über seinen Lebensabend nachzudenken; 1878 hatte er sich für seinen Alterssitz in Hademarschen ein Grundstück gekauft. Als im Juli 1879 Storms Mutter starb, entschloss er sich, sich vorzeitig pensionieren zu lassen. Seine Pension wurde ihm zum Mai 1880 bewilligt. 1880 begann er mit dem Bau des Hauses und verkaufte sein Haus in Husum. Storm wollte vor allem einen Neuanfang als Dichter wagen.
 
 Lebensabend in Hademarschen
 
Die Familie Storm musste ab April 1880 mit einer Interimswohnung vorlieb nehmen, da die Altersvilla erst im April 1881 bezugsfertig war. Doch dann konnte Storm die »köstliche Aussicht auf Wald- und Wiesengründe« genießen, eine neue Abendgesellschaft für Literatur und Musik gründen, seinen regen Briefverkehr (u. a. mit Paul Heyse, Gottfried Keller und Erich Schmidt) fortsetzen und Besuche empfangen. Auch unternahm Storm mehrere Reisen, um Verwandte und Freunde zu besuchen (u. a. in Husum, Hamburg, Berlin und Weimar). Verstärkt wurde ihm nun als Dichter Anerkennung zuteil. 1882 verlieh ihm der bayerische König den Maximiliansorden für Kunst und Wissenschaft, zu dessen Trägern Eichendorff und Mörike gehörten.
 
1882 legte Storm seine Theorie der Novelle dar: Sie sei die »strengste Form der Prosadichtung«, die wie das Drama »die tiefsten Probleme des Menschenlebens« behandle und »einen im Mittelpunkt stehenden Konflikt« verlange. Mit den meisten seiner späten Novellen ist Storm diesen Anforderungen gerecht geworden, so mit »Hans und Heinz Kirch« (1881/82), »Chronik von Grieshuus« (1884) »Ein Doppelgänger« (1886) und »Ein Bekenntnis«. Am bekanntesten und bedeutendsten wurde Storms letzte Novelle »Der Schimmelreiter« (1886—88), für deren Abfassung er umfangreiche Quellenstudien betrieben hat.
 
Die Arbeiten waren allerdings durch Krankheit und Leid beeinträchtigt: Im Oktober 1886 fesselte ihn eine schwere Rippenfell- und Nierenentzündung fünf Monate ans Bett, im Dezember starb sein ältester Sohn Hans, im Frühjahr 1887 wurde als Ursache anhaltender Magenbeschwerden eindeutig Magenkrebs festgestellt. Storms tiefe Schwermut kurierte ein Ärztekomitee aus der Familie durch eine Pseudodiagnose, die Magenkrebs ausschloss. Ein Erholungsaufenthalt auf Sylt im August erhöhte seinen Lebensmut. So konnte Storm im September die Ehrungen zu seinem 70. Geburtstag entgegennehmen und im Februar 1888 seine Meisternovelle abschließen. Storm fing gleich eine neue Novelle an und las noch Korrektur, doch wuchsen die Schmerzen mehr und mehr, und die Kräfte schwanden. Am 4. Juli 1888 erlag er seinem Leiden im Kreise seiner Familie. Am 7. Juli wurden seine sterblichen Überreste nach Husum überführt und im Beisein einer riesigen Menschenmenge, aber nach Storms Wunsch ohne geistlichen Beistand und ohne Grabrede in der Familiengruft beigesetzt.
 
 Nachruhm und Stormbild
 
Storms Werke fanden zwar schon zu seinen Lebzeiten Anklang, aber erst nach dem Ersten Weltkrieg einen massenhaften Absatz: Von 1918 bis 1936 erschienen 25 Werkausgaben, von 1945 bis 1990 wurden in den deutschsprachigen Ländern über 20 Millionen Bände seiner Werke verkauft. Inzwischen sind seine Werke in alle europäische Sprachen übersetzt. Indessen wurden sie lange Zeit überaus einseitig ausgelegt: Schon Erich Schmidt hatte sie 1880 in seinem Artikel über Storm als »deutsch-gemütliche« Hausdichtung gekennzeichnet. In einem »Gedenkbuch« zum hundertsten Geburtstag des Dichters wurde Storm als »deutscher Heimatkünstler« gerühmt, seine »deutschnationale Gesinnung« und sein »nordgermanisches Naturgefühl« wurden lobgepriesen. Von Nationalsozialisten wurde Storm denn auch als ein Vertreter ihrer Blut-und-Boden-Ideologie ausgegeben.
 
Gegen eine solche deutschtümelnde und verfälschende Deutung konnten Georg Lukács und Thomas Mann mit ihren feinsinnigen Würdigungen wenig ausrichten. Das gängige Stormbild blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg das eines bieder-bürgerlichen Heimatdichters. Die Literaturwissenschaft hat erst seit den 1980er-Jahren verstärkt den historischen, politischen und ideologischen Kontext von Storms Werken untersucht und ihre kritischen Aspekte hervorgehoben. Damit hat sie zu einem vielseitigeren und vollständigeren Stormbild beigetragen.
 
 
Winfried Freund: Theodor Storm. Stuttgart 1994.
 Regina Fasold: Theodor Storm. Stuttgart 1997.
 Hartmut Vinçon: Theodor Storm. Reinbek 1997.
 Karl E. Laage: Theodor Storm. Biographie. Heide 1999.

Universal-Lexikon. 2012.

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